„Fotografieren auf der Straße“ betitelt der Autor Hans-Michael Koetzle in dem Buch „Augen Auf!: 100 Jahre Leica“ ein Kapitel zum Thema Streetphotography und darüber hinaus.
Das Buch ist übrigens zur gleichnamigen Ausstellung in Hamburg erschienen.
Er schreibt:
„Während nicht wenige Pressefotografen in den 60er- und 70er-Jahren zur Spiegelreflextechnik wechselten – auch mit der Option, lange Brennweiten zu nutzen –, wurde für wenigstens eine Generation amerikanischer Autorenfotografen die Leica zum kongenialen Handwerkszeug. … Sich mit der Leica zu verbünden, ihre spezifischen Eigenschaften zu nutzen, ihr Potenzial in den Dienst einer wohlkalkulierten Bildsprache zu stellen, avancierte fast schon zum Gemeinplatz jener Jahre. Die Leica war klein, leicht, diskret.“
1. Die Leica war klein, leicht und diskret
„Man fiel nicht auf und konnte so annähernd unbemerkt auf der Straße operieren. Die kurzen Brennweiten mit ihrer großen Schärfentiefe gestatteten schnelles Fokussieren.“
2. Kurze Brennweiten gestatten große Schärfentiefe
„Oder man stellte den Schärfebereich vorher ein – Stichwort »prefocus « – und fotografierte zügig aus der Hüfte.“
3. Mit Prefocus, Fixfokus bzw. Panfokus fotografiert man aus der Hüfte
„Die von Anfang an ergonomisch gedachte Leica lag gut in der Hand. Auch verdeckte die Kamera beim Blick durch den Sucher nicht das gesamte Gesicht, ein Auge blieb frei, um das Geschehen
außerhalb des Suchers zu verfolgen. Der Sucher selbst war hell und er zeigte – im Gegensatz zur Spiegelreflexkamera – auch das Umfeld des vom eingespiegelten Rahmen definierten Bildes.“
4. Der Sucher zeigt mehr als 100%
„Nur so waren exakte Anschnitte möglich. Nicht zufällig sind Leica Aufnahmen von den Rändern her gedacht und komponiert, nicht aus der Bildmitte heraus.“
5. Aufnahmen werden vom Rand gedacht, nicht von der Mitte
„Auch war die Leica schnell. Wer die Auslöseverzögerung moderner Digitalkameras kennengelernt hat, weiß, was gemeint ist. Leica Bilder sind Bilder aus Augenhöhe.“
6. Leica Fotos werden in Augenhöhe gemacht
„Ausgelegt für kurze Brennweiten, ist man mit der Leica dicht am Geschehen. Auch das vermittelt den Fotografien eine spezifische Anmutung und besondere Authentizität.“
7. Man muß dicht dran sein
„Fotografierende Künstler in den 60er-Jahren nutzten alle möglichen Systeme, vom Großbild bis Polaroid. Wer mit der Leica arbeitete, verschmolz regelrecht mit seiner Kamera. »As a documentarian«, schreibt Greene in Anlehnung an Henri Cartier-Bresson, »Winogrand has made the camera an extension of his eye. Friedlander’s achievement is more extreme: his eye has become an extension of his camera. His photographs show a world that was unprecedented, unknown, and inconceivable before it was photographed.“
Nun gut!
Damit stellt Koetzle ja fest, daß die Leica keine Rolle mehr spielte im Journalismus, weil man dort zum Tele überging.
Aber Cartier-Bresson kommt natürlich vor. Der wird gerade eingeteilt in eine künstlerische Phase mit viel Surrealismus in den jungen Jahren und dem Fotojournalismus in den späteren Jahren.
Da er immer Leicas nutzte, kann man ihn jetzt je nach „Phase“ neu deuten.
So kommt Cartier-Bresson vielleicht zurück als Werbesymbol.
Für die Autorenfotografie empfehle ich zudem als Einstieg diesen Text.
Augen auf!
Ich habe mir erlaubt, von dem Zitat aus dem Buch Bausteine abzuleiten für die Fotografie mit einer Leica, so wie Hans-Michael Koetzle es darstellt.
Dazu möchte ich ein paar Gedanken aufschreiben:
1. Baustein – Die Leica war klein, leicht und diskret
Heute gibt es viel kleinere, leichtere und diskretere Kameras. Selbst im Vollformat ist Bewegung. Aber es gibt heute kleinere, leichtere und diskretere Kameras mit Sucher.
2. Baustein – Kurze Brennweiten gestatten große Schärfentiefe
Das ist ein Argument für kleinere Sensoren, die dadurch zu neuen Ehren kommen und heute oft auch die bessere Wahl sind, wenn es auf Schärfentiefe und nicht auf Freistellung ankommt.
3. Baustein – Mit voreingestelltem Fokus fotografiert man aus der Hüfte
Das ist heute zwar noch möglich aber kaum noch erforderlich. Die neuen Autofokussysteme sind oft so schnell und so gut, daß dies eine Alternative ist. Allerdings ist es immer noch so, daß man mit einem Fixfokus eine ideale und schnelle Möglichkeit hat, Fotos zu machen, die je nach Brennweite und Sensorgröße sehr schön wirken.
4. Baustein – Der Sucher zeigt mehr als 100%
Das haben bis heute eigentlich nur die Leica-Sucher und die Fuji X100 Sucher.
5. Baustein – Aufnahmen werden vom Rand gedacht, nicht von der Mitte
Diese Aufnahmetechnik ist aber auch mit Suchern möglich, die „nur“ 100 Prozent bieten. Damit nicht genug. Hier spielen in bestimmten Situationen auch die Monitore ihre Stärken aus. Man kann manchmal mit einem Monitor besser komponieren als mit einem Sucher. Und paradoxerweise bietet gerade der Blick auf den Kameramonitor eine noch bessere Sicht auf das Motiv und den Rahmen, weil man viel mehr als 100 % Prozent sieht. Man blickt ja auf den Monitor und über den Monitor und die Kamera. Man hat quasi 1000% Sichtfeld. Und letztlich gehört es auch zur heutigen Wahrheit, daß man schnell mal ein Foto digital beschneiden kann, so daß der Ausschnitt dann auch stimmt.
6. Baustein – Leica Fotos werden in Augenhöhe gemacht
Wenn sie nicht aus der Hüfte gemacht werden, dann also in Augenhöhe. Da der Aufnahmestandpunkt inklusive Höhe immer viel Einfluss hat, kommt es eben darauf an. Cartier-Bresson war sehr groß, andere waren kleiner.
7. Baustein – Man muß dicht dran sein
Das kann sein, das muß aber heute nicht mehr sein. Dazu gibt es einfach zu viele gute Teleobjektive und fotografisch-technische Möglichkeiten. Strassenfotos leben als Porträtfotos auch heute noch von Nähe, Szenen auf der Strasse brauchen aber eine bestimmte Distanz, um überhaupt erfasst zu werden.
Und nun?
Nun wissen wir, wie die Leica-Fotografen fotografiert haben.
Und wir können es ebenso machen oder etwas Neues ausprobieren.
Deshalb empfehle ich zu fotografieren nach meinen Regeln für Fineart-Strassenfotografie.
Das kann ihrer fotografischen Entwicklung gut tun.
Dazu brauchen Sie keine Leica. Es geht aber auch mit einer Leica.
Sie haben also die freie Wahl.
In diesem Sinne!